3 Da sprach der König [Nebukadnezar] zu ihnen: Ich habe einen Traum gehabt, und mein Geist ist beunruhigt, bis ich den Traum verstehe! 4 Hierauf gaben die Chaldäer dem König auf Aramäisch zur Antwort: O König, mögest du ewig leben! Erzähle deinen Knechten den Traum, so wollen wir die Deutung verkünden! 5 Der König antwortete den Chaldäern: Mein Entschluss steht unwiderruflich fest: Wenn ihr mir nicht den Traum samt seiner Deutung verkündet, so sollt ihr in Stücke zerhauen und eure Häuser zu Misthaufen gemacht werden; 6 wenn ihr mir aber den Traum und seine Deutung verkündet, so sollt ihr von mir Geschenke und Gaben und große Ehre empfangen. Darum sagt mir den Traum und seine Deutung!“
Daniel 2 beginnt mit einem Traum des König Nebukadnezars II., der ihn sehr beunruhigt. Er lässt deshalb die Chaldäer, Weisen, Traumdeuter und Wahrsager zusammenrufen, die nun vor ihm stehen.
Die Chaldäer
Der Ausdruck Chaldäer steht sowohl für eine Volksgruppe als auch für Wahrsager und Magier, die aus diesem Volk stammten. Siehe Ausführungen zu Chaldäer in Daniel 1,4.
Es ist naheliegend, dass die „Chaldäer“, die in diesen Versen in Daniel Kapitel 2 genannt werden, für den gesamten Beraterstab an Wahrsagern, Traumdeutern und Magier standen. Oder anders ausgedrückt: Die Chaldäer, welche die Berühmtesten dieser Kunst waren, sprachen für die gesamte Körperschaft der Wahrsager, Sterndeuter und weisen Männer.
Auf Aramäisch geschrieben
Die aramäische Sprache gliedert sich in das vorchristliche Altaramäisch (Reichsaramäisch und Biblisch-Aramäisch) und in das Westaramäische (Samaritanisch, Jüdisch- und Christlich-Palästinensisch-Aramäisch) sowie Neuwestaramäisch und Ostaramäisch (Syrisch, Mandäisch, Babylonisch-Talmudisch) und Neuostaramäisch. Altaramäisch ist seit dem 10. Jahrhundert v.u.Z. belegt und war in assyrischer Zeit internationalen Handels- und Diplomatensprache. Ab dem 6. Jahrhundert entwickelte sich daraus das Reichsaramäisch, die zur Verkehrssprache im Achäminidenreich wurde. Dazu gehört das Biblisch-Aramäische. Ab ca. 200 v.u.Z. spricht man vom Mittelaramäisch, wozu auch das biblische Aramäisch gehört. Aus dem Altaramäischen entwickelte sich das Westaramäische, wozu das Samaritanische, das Jüdisch-Palästinensiche und das Christlich-Palästinensische gehört. Das Jüdisch-Babylonische wird von den Juden in Babylonien erst vom 3. bis zum 9. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung gesprochen. Es ist die Sprache des babylonischen Talmuds und ist in vielen Zauberschalen mit Beschwörungen bezeugt.1
Die Aramäer sind eine semitische Völkergruppe, die seit der ausgehenden Bronzezeit (2200 bis 800 v.u.Z.) im östlichen Mittelmeerraum und in Nordmesopotamien mehrere Königreiche gründeten, die später unter die Herrschaft des Neuassyrischen Reiches gerieten. Die aramäische Sprache wurde zur Amtssprache des neuassyrischen, des neubabylonischen und des Achämenidenreiches.2
Das Vordringen der Aramäer wurde durch die Assyrer zwar abgewehrt, aber sie konnten nicht verhindern, dass Aramäer nach Osten vordrangen. Vor allem wurden sie deportiert oder kamen als Handwerker nach Assyrien, um den Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. Es trug dazu bei, dass ab dem 9. Jahrhundert v.u.Z. Aramäisch zur zweiten Landessprache in Assyrien wurde und sogar die Satzstellung der assyrischen Sprache änderte und umgekehrt. Auf diese Weise breitete sich das Aramäische in Wort und Schrift auch in ganz Babylonien aus. Zusammen mit den Chaldäern traten die Aramäer im Süden Babyloniens für dessen Unabhängigkeit ein. Sie verhalfen Babylon schließlich zum Aufstieg als Großmacht. Babylonisch als Umgangs- und Verkehrssprache wurde zunehmend zurückgedrängt. Aramäisch mit all seinen Dialekten wurde die Sprache im vorderen Orient, die sich am weitesten ausbreitete.3
Erstmals findet sich der Name „Aram“ als Ortsbezeichnung in einer Inschrift des akkadischen Königs Naram-Sin aus dem 23. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Aram erstreckte sich um die Hauptstadt Damaskus nach Norden und Süden. Im 1. Buch Mose wird Aram als einer der fünf Söhne Sems erwähnt (1. Mose 10,22). Als aramäischer Ort wird Aram-Naharajim erstmals in 1. Mose 24,10 genannt. Es bedeutet „Aram der zwei Ströme“ für die Region im Nordwesten Mesopotamiens. Aram wurde im Jahr 732 v.u.Z. von den Assyrern erobert.
Die Aramäer hatten keine einheitliche aramäische Religion, sondern unterschiedliche Lokalkulte in den verschiedenen Königreichen. Gemeinsam hatten sie jedoch den Wettergott Hadad als oberste Gottheit. Hadad hatte sein Heiligtum in Aleppo. Größere Bedeutung hatten die Gottheiten Rakib-El, ein besonderer Schutzgott, der Mondgott Sin und die Liebesgöttin Ischtar.4 Nachgewiesen ist zudem seit dem 8. Jahrhundert v.u.Z. die Übernahme des phönizischen Gottes Ba’alsamen in die aramäische Religion.5
6 mit 22 Konsonanten für die hebräische Sprache zu übernehmen. Seither haben die aramäische und die hebräische Sprache dieselben Schriftzeichen. Die paläo-hebräische Schrift findet sich jedoch noch bis ca. 135 u.Z. vor.7 Die alttestamentlichen Schriften, welche während oder nach dem babylonischen Exil entstanden, enthalten zahlreiche aramäische Fremdwörter.
Man kann davon ausgehen, dass Daniel und seine hebräischen Freunde die aramäische Sprache erst am babylonischen Hof lernten. Vor dem Babylonischen Exil (6. Jahrhundert v.u.Z.) sprachen und schrieben die Israeliten Hebräisch. Seit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil (Ende des 5. Jahrhunderts v.u.Z.) fing man an, statt der paläo-hebräischen Schrift (siehe rechtes Bild) die aramäische QuadratschriftHebräisch wurde aber nicht nur bis ins zweite Jahrhundert unserer Zeit geschrieben, sondern auch noch gesprochen. Auch wenn die meisten Forscher noch vor einigen Jahrzehnten überzeugt waren, dass das Hebräische in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten ausgestorben war, hat sich das ab 1948 mit der Entdeckung der Qumranschriften geändert. Die meisten dieser Schriften, die um die Zeitenwende entstanden, sind auf Hebräisch geschrieben. Dabei ist ersichtlich, dass die Autoren diese Schriften nicht in einer toten Sprache schrieben. Das heißt, sie haben nicht einfach die biblische Sprache imitiert. Es zeigt sich vielmehr, dass dieses Hebräisch eine lebendige, zu jener Zeit gesprochene Sprache war. So nimmt man heute an, dass in Judäa, in der Gegend um Jerusalem, Hebräisch von der jüdischen Bevölkerungsmehrheit gesprochen wurde.8 In Galiläa hingegen gibt es bisher keine Belege für Hebräisch als Umgangssprache zurzeit Jahuschuahs. Aber die Schriftsprache ist auch dort das Hebräische geblieben.9 Aus den klassischen aramäischen Sprachen entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte die verschiedenen neuaramäischen Sprachen. Heute wird Aramäisch noch in Syrien, Türkei, Irak und Iran gesprochen.
Ein Bericht im 2. Buch der Könige gibt einen Hinweis, dass der Großteil des judäischen Volkes ca. 700 v.u.Z. noch nicht Aramäisch verstehen und sprechen konnte. Das 18. Kapitel berichtet von der Belagerung Jerusalems durch die Assyrer 720 v.u.Z. Ein assyrischer Beamter verspottete die Einwohner Jerusalems auf „judäisch“, indem er behauptete, dass Juda nicht auf JaHuWaH vertrauen könne, weil ihr König Hiskia die „Höhen und Altäre“ (heidnische Altäre) zerstört und dass es JaHuWaH war, der die Assyrer gegen sie gesandt habe (2. Könige 18,20-25). Daraufhin antworteten die jüdischen Wortführer dem assyrischen Beamten:
„Rede doch mit deinen Knechten aramäisch, denn wir verstehen es; und rede nicht judäisch [hebräisch] mit uns vor den Ohren des Volkes, das auf der Mauer ist!“ (2. Könige 18,26)
Die jüdischen Befehlshaber wollten nicht, dass der Assyrer auf Hebräisch mit ihnen sprach, sondern in der aramäischen Diplomatensprache, denn sie fürchteten, dass diese arroganten Reden möglicherweise die Moral der jüdischen Bevölkerung untergraben könnte, die sich an oder auf der Mauer aufhielten und zuhörten. Sie würden hören, dass es für sie die Vernichtung bedeuten könnte (siehe 2. Könige 18,27). Das ließ den Assyrer jedoch nicht davon abhalten, mit dem Volk direkt weiter auf Hebräisch zu reden und sie zu warnen, sie sollten nicht auf König Hiskia und auf JaHuWaH vertrauen (2. Könige 18,28-37). Das einfache Volk konnte Aramäisch nicht verstehen.
Kritiker haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Jahre behauptet, die aramäische Sprache sei auch zu Daniels Zeit noch nicht in Gebrauch gewesen. Zumindest nicht der aramäische Sprachtyp, der im Buch Daniel benutzt wird. Man hat deshalb das Buch Daniel in eine spätere Zeit datiert, als in das 5. Jahrhundert v.u.Z. wo sich die Ereignisse im Buch Daniel abspielten. Sprachwissenschaft und archäologische Ausgrabungen haben diese Annahme jedoch widerlegt. Es hat sich erwiesen, dass die Sprache des Buches Daniels genau dem Aramäisch entspricht, welche sich seit dem 7. Jahrhundert v.u.Z. im Nahen Osten ausgebreitet hat. Sie kamen zu dem Schluss, dass die aramäische Sprache in Daniel und Esra Reichsaramäisch war.10
Auch aramäische Dokumente, die in Qumran gefunden wurden, weisen auf ein um einige Jahrhunderte früheres Datum (als das 3./2. Jahrhundert v.u.Z.) des Buches Daniels hin. So konnte man anhand des in Qumran gefundenen aramäisch geschriebenen Genesis-Apokryphons11 und des Hiob-Targums12 feststellen, dass diese um einige Jahrhunderte später geschrieben wurden, als die aramäischen Teile des Buches Daniels und Esras. Diese Schriften, die man in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts v.u.Z. datierte, unterscheiden sich in der aramäischen Sprache stark von Daniel und Esra (S. 220-221). Satzstellung und Feinheiten des Aramäischen in den aramäischen Teilen Daniels und Esras lassen schließen, dass sie in dieselbe Kategorie der aramäischen Papyri des 5. Jahrhunderts v.u.Z. sowie in das östliche (babylonische) Aramäisch einzuordnen sind.13
In der Regierungszeit Nebukadnezars II. (605-562) ist zum ersten Mal ein „Alphabetschreiber“ (sepîru) bezeugt, der Dokumente in aramäischer Sprache auf Leder/Pergament anfertigte. Der Aufstieg des Alphabetschreibers bis an die Spitze der Tempelverwaltung in der Regierung des späteren Königs Kambysus II. (530-522 v.u.Z.) ist ein deutliches Zeichen für die zunehmende Dominanz der in Aramäisch durchgeführten Korrespondenz und Buchführung.Einen weiteren Hinweis auf eine frühere Datierung des Buches Daniel gibt der im 1. Jahrhundert lebende Geschichtsschreiber Flavius Josephus (37-100 u.Z.). Er berichtet in seinem Werk Antiquitates Judaica (Jüdische Altertümer), dass der griechische König Alexander der Große (356 – 323 v.u.Z.) Jerusalem besucht habe. Dabei habe er den Hohepriester freundlich begrüßt und den Schöpfernamen auf seinem Brustschild ehrerbietend anerkannt. Auf die Frage, warum er das tat, soll er geantwortet haben, dass er überzeugt ist, dass er derjenige König sei, der in Buch Daniel (Kapitel 2 und 7) als König des griechischen Königreichs beschrieben ist.15 Das Buch Daniel kann somit nicht erst im 3. oder 2. vorchristlichen Jahrhundert geschrieben worden sein.
Die Königsfamilie am babylonischen Hof und die Oberschicht bzw. die gebildete Klasse in Babylonien, besonders die Chaldäer, sprachen aramäisch. So haben auch die Wahrsager und Sterndeuter Aramäisch gesprochen. Es verwundert daher nicht, dass die Chaldäer den König ab Vers 4 (Daniel 2) auf Aramäisch ansprachen und nicht auf Babylonisch, das von Teilen des einheimischen Volkes gesprochen wurde.
Die Frage stellt sich, warum Daniel ab Vers 4 auf Aramäisch schrieb und ab dem 7. Kapitel wieder auf Hebräisch. Es ist auffallend, dass er genau die Verse und Kapitel auf Aramäisch schrieb, wo es um heidnische Angelegenheiten und die Abfolge der heidnischen Nationen und Weltreiche geht. Ab dem Abschnitt, wo es wieder um JaHuWaHs Volk und der sie betreffenden Weissagungen geht, schreibt Daniel wieder auf Hebräisch.
Der König lebe ewig!
Diese Grußformel war Brauch in Babylonien, um dem König ewiges Leben oder einfach nur langes Leben zu wünschen. Ein ähnlicher Gruß steht in 1. Könige 1,31; Nehemia 2,3; 1. Samuel 10,24; 1. Könige 1,25. In beiden letzten Versen heißt es: „Es lebe der König!“. Viele Bibelausleger gehen davon aus, dass es bei diesem Gruß nicht darum geht, dem König Unsterblichkeit zu wünschen, sondern der König möge ein langes, glückliches und reiches irdisches Leben haben.
Diese Art des Grußes für Könige oder Herrschende war noch lange in Gebrauch auch in westlichen Königreichen. Der Ausdruck „Lang lebe der König“ oder „Vive le roi“ (Es lebe der König) bzw. „Vive l’empereur“ (es lebe der Kaiser) sind berühmt. Bis ins 19. Jahrhundert wurde in Frankreich der Ausspruch „Le roi est mort, vive le roi“ (der König ist tot, lang lebe der König) ausgerufen, wenn der Tod des alten Königs bekannt gegeben und der neue König ausgerufen wurde.
Jemanden ein langes glückliches Leben zu wünschen ist ein schöner Gruß. Besonders wenn man darin noch den Segen JaHuWaHs für das Leben wünscht. Denn langes Leben wird als Segen gesehen. Kein guter Wunsch kann besser ausgedrückt werden, als jemanden ein langes, gesegnetes Leben zu wünschen. JaHuWaH verheißt demjenigen, der den Weg der Gerechtigkeit geht, dass er bereits auf dieser Erde keinen Mangel leiden wird:
„Fürchtet [… JaHuWaH], ihr Seine Heiligen; denn die Ihn fürchten, haben keinen Mangel. Junge Löwen leiden Not und Hunger; aber die … [JaHuWaH] suchen, müssen nichts Gutes entbehren. Kommt her, ihr Kinder, hört auf mich; Ich will euch die Furcht … [JaHuWaHs] lehren! Wer ist der Mann, der Leben begehrt, der sich Tage wünscht, an denen er Gutes schaut? Behüte deine Zunge vor Bösem und deine Lippen, dass sie nicht betrügen; weiche vom Bösen und tue Gutes, suche den Frieden und jage ihm nach!“ (Psalm 34,10-15)
Es ist eine tragische Ironie, dass die Traumdeuter dem König Nebukadnezar II. ein langes Leben wünschen, wohingegen der Traum aufzeigt, dass er bald sterben und auch sein Königreich untergehen würde.
In diesem Fall wollten die Chaldäer dem König sicherlich auch ihre Huldigung zeigen und dass sie willig sind, alles zu tun, das Glück und ein gesundes und langes Leben des Königs zu fördern. Es war hier besonders angebracht, diese Formel zu benutzen. Denn die Chaldäer widersprachen dem König, indem sie ihn aufforderten, den Traum zu nennen, obwohl er dies von ihnen verlangte. Dies könnte respektlos klingen, weil es den Anschein erweckt, der König habe ihnen nicht alle Mittel gegeben, die es ihnen ermöglicht, das Geforderte zu erfüllen. Dieser vorangegangene Wunsch eines langen und glücklichen Lebens könnte es etwas abmildern.
Erzähle uns den Traum
Die chaldäischen Traumdeuter und Wahrsager waren sehr gut in ihrer Kunst geschult. Sie brauchten dazu aber genügend Anhaltspunkte, um eine Grundlage für ihre Berechnungen und Auslegungen zu haben. Aus diesem Grund baten sie den König, ihnen den Inhalt des Traumes mitzuteilen. Sie folgten so einem Standardverfahren. Es war üblich, für babylonische Könige, dass sie den Traum erzählten und ihre Berater und Traumdeuter deuteten den Traum. Die babylonischen Traumdeuter mussten den Traum wissen, um ihn deuten zu können.
16 Diese Anleitungen waren systematisch geordnet, um bei Bedarf schnell nachschlagen zu können. Dabei wurde bestimmt auch versucht, die schlimmen Konsequenzen eines bösen Traums zu entfernen und politisch korrekte Auslegungen zu liefern, die den König schmeichelten.
Für gewöhnlich benutzten die Traumdeuter für ihre Auslegung Anleitungen, die über die Jahrhunderte zusammengeschrieben wurden. Diese Werke lieferten jede Deutung, völlig gleich, welches Bild ein König gesehen haben mag. Eine solche Traumanleitung wurde auf 12 Tontafeln aus der Zeit König Hammurabis (1228 – 1686 v.u.Z.) gefunden, welches als assyrisches Standardwerk galt.Die Chaldäer schienen anfangs noch recht ruhig in ihrer Forderung geblieben zu sein, der König möge ihnen den Traum mitteilen, um ihm die Deutung zu offenbaren. Sie waren es gewohnt, Träume zu deuten. Sie waren darin Experten und gut ausgebildet. Bestimmt hatten sie dabei auch immer die Situation und die Erwartung des Königs berücksichtigt. Wie auch heute die Wahrsager meist vorgehen, können Träume so gedeutet werden, dass man hinterher immer in irgendeiner Weise mit viel Geschick behaupten kann, die Voraussage sei eingetroffen.
In diesem Fall konnten die babylonischen Traumdeuter jedoch nicht tricksen und manipulieren. Es fällt auf, dass der König viel Wert darauf legte, die Wahrheit zu erfahren. Er wollte keine Schmeicheleien oder Deutungen hören, die nur den Eigeninteressen der Chaldäer dienten.
"Sagt mir den Traum und seine Bedeutung!"
König Nebukadnezar teilte den Chaldäern nicht mit, was er geträumt hatte. Beim flüchtigen Lesen könnte man annehmen, dass der König den Traum vergessen hat. Bei genauerer Betrachtungsweise spricht jedoch viel dafür, dass sich König Nebukadnezar an den Traum zumindest grob erinnerte. Der Traum hatte ihn sehr „erschrocken“. Selbst wenn er sich den Traum nicht mehr in allen Einzelheiten gemerkt hat, so wusste er sicher, dass es sich um die Zukunft seines Reiches handelte. Es liegt nahe, dass er seinen Beraterstab bewusst auf die Probe stellen wollte, um ihre Fähigkeiten zu testen. Er wollte sicherstellen, dass seine Experten in Zukunftsfragen und Traumdeutung ihn nicht betrügen würden.
Die Traumdeuter wussten auch, dass sie den König nicht betrügen konnten, indem sie einfach einen Traum erfanden. Aus dem biblischen Bericht wird deutlich, dass die Chaldäer auch gar nicht annahmen, der König könnte den Traum vergessen haben. Denn sie baten ihn drei Mal, er möge ihnen den Traum mitteilen. Selbst wenn der König den Traum nicht mehr wusste, so musste man damit rechnen, dass er zumindest einen ausreichenden Eindruck davon hatte. Zumindest hätte er sofort erkannt, was es „nicht“ war. Die Annahme, der König habe den Traum völlig vergessen, würde auch die Aussage in Vers 9 überflüssig machen, wo es heißt:
„Darum sagt mir den Traum, damit ich weiß, dass ihr mir auch die Deutung verkünden könnt!“ (Daniel 2,9)
Einerseits verlangte der König nicht zu viel von den Magiern, Astrologen und Traumdeutern. Diese Männer verdienten ihr Geld mit ihrer angeblichen Fähigkeit, die Götter zu kontaktieren und Geheimnisse von ihnen offenbart zu bekommen. Wenn sie also wirklich mit einem wahrhaftigen “Gott” in Verbindung standen, beziehungsweise die Götter, mit denen sie kommunizierten, tatsächlich allmächtig sind, dann müssten sie beides weitergeben können: den Traum und seine Bedeutung.
Andererseits wurden Träume, die Position der Sterne und Planeten oder auch ungewöhnliche Erscheinungen am Himmel von den Chaldäern als Andeutungen der Götter verstanden, was in der Zukunft geschehen wird. Diejenigen die Vorgaben die Zukunft zu deuten, konnten lediglich diese Dinge auslegen. Wenn der König deshalb von ihnen verlangte, den Traum selbst zu wissen, war es eine Forderung, die ihr Arbeitsfeld gar nicht vorsah und ihre Fähigkeiten überstieg. Eine solche Forderung konnten sie nur als ungerecht empfinden.
Das Schlimmste war, dass der König ihnen keine Zeit ließ. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als immer wieder zu bitten: „Erzähle deinen Knechten den Traum, so wollen wir die Bedeutung verkündigen“ (Daniel 2,4; auch Verse 7 und 10).
Entschluss steht unwiderruflich fest
Unbarmherzig forderte der König, dass die Chaldäer ihm den Traum mitteilen müssen, ansonsten habe es tödliche Folgen. Das aramäische Wort אזד (asad) ist in den meisten Bibeln korrekt mit „unwiderruflich“ wiedergegeben. Es ist wie ein öffentlicher Beschluss, der verbindlich ist. Der König meinte wirklich, was er sagte.
In Stücke hauen und zu Misthaufen machen
Damit die Wahrsager und Traumdeuter sich Mühe gaben, versuchte es der König mit Zuckerbrot und Peitsche. Auf der einen Seite versprach er ihnen Geschenke, auf der anderen Seite bedrohte er sie mit einer grausamen Hinrichtung.
Der König drohte den Chaldäern, dass er sie in Stücke hauen und ihre Häuser zu Misthaufen (andere Übersetzung: Kotstätten) machen würde. Grausame Strafen wie Zerstückelung waren zu der Zeit nichts Seltenes und wurden in vielen Inschriften jener Zeit übermittelt. Der antike Geschichtsschreiber und Völkerkundler Herodot (um 484 bis 425 v.u.Z.) berichtet über Zerstückelungen jener Zeit. Herodot schreibt von Magiern zur Zeit des persischen Reichens, denen man aufgrund ihres „Betrugs“ (einer wollte den Thron Darius I. an sich reißen) nach der Ermordung die Köpfe abschnitt. Der Tag wurde als Feiertag, das Magierblutfest, eingeführt. Kein Magier durfte an diesem Festtag auf die Straße, so Herodot.17
Besonders die Assyrer waren für ihre barbarischen Strafen bekannt. Verstümmelung, Zerstückelung, Pfählen und Abziehen der Haut waren gewöhnliche Hinrichtungsarten. Die Annalen des assyrischen Königs Assurbanipal (668 – 627 v.u.Z.) belegen die Praxis assyrischen Herrscher, die Leichen der Feinde zerstückeln zu lassen. 18
Der Ausdruck: „zu Misthaufen machen” bzw. „zu Kotstätten machen“ wird ebenso in einem anderen Erlass Nebukadnezars gebraucht (Daniel 3,29). Auch in Esra 6,11 wird diese Redewendung in einem Erlass des persischen Königs Darius I. benutzt. Das zeigt, dass es ein Teil des damaligen Vokabulars in königlichen Erlassen als Mittel der Einschüchterung war.
Man kann spüren, wie verzweifelt der König war, aber auch seine Schwäche. Denn Gewaltandrohung und Gewaltanwendung ist immer ein Zeichen von Hilflosigkeit.
„Der Gerechte erbarmt sich über sein Vieh, das Herz des Gottlosen aber ist grausam.“ (Sprüche 12,10)
Ein Sprichwort besagt: „Wenn Gewalt kommt, ist Recht tot“. Ein anderes: „Gewalt führt die Kuh nicht in den Stall.“ Von dem Dichter und Arzt Friedrich von Schiller (1759-1805) stammt der Spruch:
„Doch besser ist es, ihr fallt in Gottes Hand, als in die der Menschen!“
1 Burkhart Kienast, historische semitische Sprachwissenschaft, Harrassowitz Verlag Wiesbaden, 2001, S. 8-9
2 Das Achämenindenreich war das erste persische Großreich, das sich zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v.u.Z. über die Gebiete der heutigen Staaten Türkei, Zypern, Iran, Irak, Afghanistan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Syrien, Libanon, Israel, Palästina und Ägypten erstreckte.
3 Hans J. Nissen, Geschichte Altvorderasiens, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München, 2012, S. 119-121
4 Siegfried Kreuzer, Geschichte, Sprache und Text: Studien zum Alten Testament und seiner Umwelt, De Gruyter, Berlin/Boston, 2015, S. 130-135
5 Herbert Niehr, Baʻals̆amem: Studien zu Herkunft, Geschichte und Rezeptionsgeschichte eines phönizischen Gottes, Peeters Publishers & Department of Oriental Studies, Belgien, 2003, S. 89
6 Als Quadratschrift wird es deshalb bezeichnet, weil sich die meisten modernen hebräischen Buchstaben in ein Quadrat einpassen lassen.
7 J. Naveh, Early History of the Alphabet, 1997, S. 78,112,120ff., in: Saskia Dönitz, Das Alphabet des Rabbi Aqiva und sein Literarisches Umfeld, in: Jewish Studies Between the Disciplines / Judaistik zwischen den Disziplinen, herausgegeben von Peter Schèafer,Klaus Herrmann,Margarete Schlèuter,Giuseppe Veltri, 2003, S. 149
8 Der Kirchenhistoriker Eusebius v. Cäsaräa (260-340 u.Z. ) schrieb, das Matthäusevangelium sei ursprünglich auf Hebräisch abgefasst gewesen. Wobei teilweise davon ausgegangen wird, dass mit „Hebräisch“ auch einfach nur „in der Sprache der Juden“ bedeutet, womit es auch Aramäisch sein könnte.
9 Gregor Geiger, Sprache(n) Jesu, 1. Teil, Im Land des Herrn, Franziskanische Zeitschrift für das Heilige Land, 68. Jahrgang 2014, Heft 3, S. 95-96
10 Gerhard F. Hasel, The Book of Daniel and Matters of Language: Evidences Relation to Names, Words, and the Aramaic Language, Andrews University Seminary Studies, Bd. 19, Nr. 3, 1981, S. 217-219
11 Im Genesis-Apokryphons (1QGenAp) sind Anspielungen zum 1. Buch Mose Kapitel 6 enthalten. Apokryphen (altgriechisch für ,verborgen‘, ‚dunkel‘) sind religiöse Schriften jüdischer bzw. christlicher Herkunft mit gnostischem Charakter aus der Zeit zwischen etwa 200 vor und 400 nach unserer Zeitrechnung.
12 Ein Targum ist eine antike Übersetzung von hebräischen oder altgriechischen Bibel-Handschriften in die aramäische Sprache.
13 Gerhard F. Hasel, The Book of Daniel and Matters of Language: Evidences Relation to Names, Words, and the Aramaic Language, Andrews University Seminary Studies, Bd. 19, Nr. 3, 1981, S. 221-225
14 André Heller, Das Babylonien der Spätzeit (7.-4. Jh.) in den klassischen und keilschriftlichen Quellen, Verlag Antike, Berlin, 2010, S. 94
15 Flavius Josephus, jüdische Altertümer, Buch XI, Kapitel 8, Abs. 5, übersetzt von Dr. Heinrich Clemenitz, Berlin 1888-1895, 3. Auflage 2011, Matrixverlag, S. 533-534
16 M. Pongracz / I. Santner, Das Königreich der Träume: 4000 Jahre moderne Traumdeutung, Verlag Paul Zsolnay, Wien, 1963, S. 33
17 Herodot’s von Halikarnaß, Geschichte, 3. Buch, Nr. 79. übersetzt von Dr. Adolf Scholl, 3. Band, Stuttgart, 1828, S. 369-370
18 Andreas Fuchs, Waren die Assyrer grausam? In: Extreme Formen der Gewalt in Bild und Text des Altertums, Martin Zimmermann (Hrsg.), Herbert Utz Verlag, München, 2009, S. 66-73